Unsere Körper sind sehr komplex aufgebaut, fast alles hängt mit allem zusammen und unsere jeweiligen Lebensumstände sind äußerst variabel. Warum also sollte ein Training den Beckenboden nur isoliert und statisch ansprechen? Das ergibt für mich keinen Sinn. Deswegen liebe ich den Ganzkörperansatz, den ich in meiner Ausbildung als Restore Your Core® Trainerin gelernt habe und den ich seitdem noch stetig um neu dazu gelernte Facetten ergänze.
Beckenboden-Training muss nicht immer mit dem Beckenboden beginnen
Für viele Frauen ist der Beckenboden eine große Unbekannte. Der erste bewusste Kontakt entsteht häufig erst, wenn etwas nicht mehr so funktioniert, wie es eigentlich soll. Dann einen Zugang zu diesem komplexen Geflecht aus Muskelschichten und Bindegewebe zu finden, fällt den meisten schwer. Ohne den Vergleich zum „vorher“, lässt sich auch nur schwer einschätzen, was „normal“ ist, und was sich verändert hat.
Spielen dann womöglich noch Traumata eine Rolle, sei es durch sexuelle Gewalt, Gewalt unter der Geburt oder Geburtsverletzungen, kann dies eine weitere Hürde dabei sein, Zugang zum eigenen Beckenboden zu finden. Der Ganzkörperansatz bietet hier tolle Möglichkeiten, dem Beckenboden etwas Gutes zu tun, ohne direkt in medias res gehen zu müssen. Übungen zum Beispiel, die sich positiv auf die Becken- und Oberkörperbeweglichkeit auswirken, haben auch einen entsprechenden Effekt auf den Beckenboden. So kann man auf Umwegen auch dem Ziel näher kommen, ohne wirklich einen echten Umweg auf sich nehmen zu müssen.
Vergangenes Jahr durfte ich ein junges Mädchen begleiten, Anfang 20, die noch keine Kinder hatte, aber leider sexuelle Gewalt hatte erleben müssen. Sie hat im Laufe unserer mehrmonatigen Zusammenarbeit über viele verschiedene Übungen, auch zur Atmung, wieder Zugang zu ihrem Beckenboden gefunden und es Schritt für Schritt geschafft, diesen aus seinem hypertonen, also zu angespanntem Zustand zu bekommen. Endlich wieder schmerzfrei Sex haben zu können war das Resultat und ihre nachvollziehbar überschwängliche Freude darüber eine für mich mehr als bestätigende Rückmeldung zu meinem Training.
Kollateralnutzen und Wechselwirkung – es wird mehr als nur der Beckenboden trainiert
Symptome einer Dysfunktion im Beckenboden können sehr vielfältig sein. Der menschliche Körper ist komplex und es bestehen viele Zusammenhänge, die nicht immer sofort offensichtlich sind. Zusätzlich wird dem Beckenboden generell, und in der Frauengesundheit besonders, noch immer nicht hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Damit sind auch nicht immer mögliche Wechselwirkungen zwischen dem Beckenboden und anderen Körperteilen bekannt.
Ich selbst begann mit dem Restore Your Core® Training, um überhaupt wieder in die Bewegung zu kommen und meinem Core nach meiner OP Unterstützung zu geben. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie viele großartigen Nebenwirkungen diese Art des Trainings für mich bereithalten würde. Nachdem mein Start für meine Knie äußerst schmerzhaft verlaufen war, war ich kurz davor alles hinzuschmeißen bevor ich überhaupt richtig angefangen habe. (Ein bisschen mehr Kontext zu diesem Erlebnis kannst Du im zweiten Teil meines Gastartikels bei der Alltagsfeierin nachlesen.)
Ich modifizierte die Workouts, passte sie an die Anforderungen meines Körpers an und machte vieles anders, weniger spektakulär aussehend und auf meinen Körper hörend. Einige Monate später stellte ich fest, dass nicht nur meine Knie, trotz mittlerweile normaler Belastung, keine Mucken mehr machten, sondern auch meine Rückenschmerzen weg waren. Die Anzahl der Migräneanfälle hatte sich ebenso merklich reduziert. Keinen dieser Punkte hatte ich gezielt in Angriff genommen, aber sie traten als sehr willkommener Nebeneffekt auf.
Es macht das Beckenboden-Training abwechslungsreicher
Die meisten Frauen, mit denen ich über ihre Erfahrungen mit Beckenboden-Training rede, erzählen mir von langweiligen Übungen, bei denen sie immer wieder im Liegen, Sitzen oder allenfalls noch im Stehen, versuchten, ihren Beckenboden mit Bildern wie „Fahrstuhl fahren“ oder „Blümchen pflücken“ zu spüren und anzusteuern. Nicht selten werden dann über Jahre wie verrückt an jeder roten Ampel Übungen wie „Anspannen & Loslassen“ oder auch „Anspannen und 10 Sekunden halten“ durchgeführt.
Diese Art des Beckenboden-Trainings mag in gezielten Fällen durchaus seine Berechtigung haben. Nur eben nicht für die meisten Frauen, insbesondere wenn die Geburt schon ein wenig länger her ist. Dieser sehr einseitige und den Beckenboden nur isoliert betrachtende Ansatz trainiert ihn nämlich nicht in der gesamten Bandbreite seiner Funktionalität. Darüber hinaus kann das – aus Angst vor den Tropfen in der Hose bei der nächsten Nies- oder Lachattacke – teils exzessive Betreiben dieser Übungen genau dazu führen, dass dies erst recht eintritt.
Trainieren wir aber nun den ganzen Körper, bieten wir nicht nur unserem Beckenboden mehr Vielfalt, sondern auch unseren Gehirnen, die zwar manchmal von Eintönigkeit profitieren, sich dadurch aber auch sehr langweilen können. Dem können wir Rechnung tragen und je nach körperlichen Bedürfnissen, aber auch nach Laune und Tagesform eine Vielfalt ins Training bringen, die wohltuend für Geist und Körper ist.
Im Alltag bewegen wir uns in der Regel, ohne dass wir darüber nachdenken, wie wir die Bewegung in dem Moment ausführen. Haben wir Beschwerden, schränken wir uns häufig ein und vermeiden bestimmte Aktivitäten oder Bewegungen. Wenn dann auch noch Angst vor möglichen Schäden bei bestimmten Bewegungen ins Spiel kommt, dann wird unsere Welt plötzliche sehr klein und der Alltag mühsam und beschwerlich.
Mit dem Ganzkörperansatz wird das Beckenboden-Training alltagstauglich. Die Übungen, die ich im Training anleite, sind dazu gedacht, die Funktionalität Deines Körpers so zu verbessern, dass Du Dich unbeschwerter durch Dein Leben bewegen kannst. Damit Du nicht darüber nachdenken musst, ob Du Dein Kind, die schweren Einkäufe oder Umzugskartons hochheben kannst, sondern weißt, wie Du es am besten tust, ohne Deinen Beckenboden unnötig zu belasten. Es ist nicht die Frage, was man macht, sondern wie man es macht.
Vielen Frauen mit Core- oder Beckenbodenschwäche wird aber eine lange Liste an Aktivitäten vorgebetet, die sie nun tunlichst meiden sollen. Dabei ist es doch viel sinnvoller, den Körper darauf zu trainieren, diese Bewegungen sicher ausführen zu können, zumal durch mehr Vermeidung von Bewegung, die Situation für den Körper – und damit häufig auch für den mentalen Zustand – nicht besser wird. Belastbarkeit entsteht nur durch Belastung, auch wenn man in ganz kleiner Dosierung beginnt, notwendig ist sie.
Das Wissen um die Zusammenhänge in ihren Körpern empowert Frauen
Ich werde nie dieses Gefühl vergessen, welches ich hatte, als ich begann zu verstehen, was in meinem Körper vor sich geht. Allein zu wissen, dass sich meine Senkungsbeschwerden mit meinem Zyklus verändern können, hat mir schon einiges an Zweifeln und Verzweiflung erspart. Wenn meine Symptome zu Beginn meines Zyklus stärker werden, ist es beruhigend zu wissen, dass das nicht der neue Dauerzustand sein wird.
Wie ich bereits im letzten Abschnitt in diesem Artikel schrieb, spielt Wissen eine starke Rolle, wenn es um Selbstkompetenz geht. Wenn ich ein Verständnis für meinen Körper entwickeln kann, die Zusammenhänge erkenne und damit auch meine Einflussmöglichkeiten sehe und nutzen kann, dann gewinne ich Macht über meinen Körper zurück. Ich bin ihm, meinen Beschwerden und Symptomen nicht mehr hilflos ausgeliefert.
Die Hoffnungslosigkeit, die ich dabei empfand, als ich noch dachte das, was mit meinem Körper passierte, einfach ertragen zu müssen, hat mich lange Zeit unglaublich gelähmt und viel Lebensfreude geraubt. Ich habe mich um die ersten Babyjahre betrogen gefühlt, habe bestimmte Momente gar nicht bewusst erlebt oder genossen und erinnere aus den ersten zwei Jahren meines Kindes vieles erst gar nicht mehr. Heute merke ich, was ich alles zurückerobert und neu dazugewonnen habe, seitdem mir RYC® Wissenstüren öffnete.
Wenn ich Zeugin davon sein darf, wie eine Kundin durch die Arbeit mit mir AHA-Erlebnisse hat und beginnt, ihren Körper mit ganz neuen Augen und liebevollen Blicken betrachten zu können, treibt mir das dankbare und demütige Tränen ins Auge. Diesen auf mühseligem Wege erlangten Wissensschatz mittlerweile im mehr Frauen vermitteln zu dürfen und sie damit zu empowern, ist für mich der Aspekt, den ich am allermeisten an dieser Arbeit liebe.
Hallo Aimée,
eigentlich wollte ich Dir ja einfach nur einen Kommentar schreiben, um Dir einen Kommentar zu schreiben ;o). Aber dann habe ich angefangen zu lesen. Und weiterzulesen. Ich bin begeistert. Nicht nur, weil Du so schön lesbar schreibst (das auch), aber vor allem, weil Du Dein Thema so voller Enthusiasmus und absolut authentischer Überzeugung beschreibst! Absolut umwerfend. Und als Sahnehäubchen kommt die Hoffnung dazu, den Beckenboden auch nach ewigen Zeiten doch noch mal ‚hin zu bekommen‘.
Ganz liebe Grüße,
Nico
Liebe Nico,
was für ein ganz besonders wundervoller Kommentar! Ganz herzlichen Dank! Es macht mir sehr froh, dass das so rüberkommt, dasbeflügelt gleich zum nächsten Artikel. 🙂 Und wenn Du konkret über Deine Situation mit mir reden magst, so lass es mich wissen. Ich würde mich freuen, Dich unterstützen zu dürfen.